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Schnick schnack schnuck. Ein Gedicht von Lina Atfah

Lina Atfah

Schnick schnack schnuck. Ein Gedicht von Lina Atfah

von: 
Interkultureller Kalender 2020

Der Interkulturelle Kalender feiert die einzigartige Vielfalt des Ruhrgebiets. Mit der Sonderedition des Jahres 2020 stellen wir jeden Monat interkulturelle Akteur*innen vor und laden zu Veranstaltungen an besonderen Orten ein. Im September empfehlen wir die Lektüre eines Gedichts der syrischen Autorin Lina Atfah aus Wanne-Eickel.

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Lina Atfah
Schnick schnack schnuck

I Die Lust

In meinem Bauch regt sich ein Biest.
Es beißt.
Der Schmerz fließt nach unten,
bis meine Knie zittern.
Der Schmerz zuckt nach oben,
bis meine Lippen beben.
Das Biest dreht sich hin und her.
Ich krümme und umarme mich,
auf Zehenspitzen flüstre ich ihm ein Lied ein.
Wörter, unverbunden, doch klar, und
Buchstaben, die die Zunge heben,
besänftigen es.
Ich spüre die Schwere in meiner Mitte,
das spielende Biest.
Meine Muskeln ziehen sich zusammen.
Mein Mund zittert.
Meine Augen verdunkeln sich.
Mein Herz bebt,
als wäre es ein Moment zwischen Leben und Tod.
Dann wache ich auf:
Danke diesem Biest, wenn es dem Verlust gehorcht

II Die Welt

Großer gelber Ball am Himmel.
Braune Striche, grüner Schatten.
Am Rand ein Baum.
Die Wolken zittrige weiße Kreise.
Der Fluss fließt aus der Sonne
und mündet im Stamm.
Neben dem Fluss steht das Haus.
Ein Ufer für das Haus, ein Ufer für den Baum.
Die Vögel sind kleine Tricks:
zwei Kommas, die sich umarmen.
Den Himmel teilen sich Wolken und Vögel.
Später kommt meine Schwester,
nimmt das Papier,
zerknittert es,
wirft es auf den Boden
und sagt zu mir:
Lass uns die Welt wegrollen.

III Das Heil

Bevor ich als kleiner Stein am Strand lag,
bevor die Wellen mich wegrollten,
bevor ich zu einer Schnecke wurde,
einer Pflanze, einem Baum, einem Vogel,
einer Kreatur, die mit fünf Fingern Dinge festhält,
vor alledem
wusste ich: Aus den Geheimnissen kommt das Übel.
Ich wusste auch: Die Welt wird mich enttäuschen.
Ich werde wieder zu dem kleinen Stein,
diesmal am Meeresgrund.
Ein Stein, den kein Wellengang mehr hebt,
der auf den Sandboden schreibt:
Oh, Welt, werde die Geheimnisse los, wenn du überleben willst!
Vor allem die kleinen,
den Verrat, die bösen Bedürfnisse, die Wünsche,
die, die Menschen sich voreinander fürchten lassen,
die, um die sie ihre Fäuste ballen.
damit niemand ihre Geheimnisse kennt.
Befreie dich von Geheimnissen! Entzaubere sie!
Lass uns das Heil einatmen!
Ab heute ist nichts mehr privat.
Jeder kennt jeden, jeder weiß, was jeder will.
Oh, Welt, nimm die Freiheit des kleinen gesunkenen Steins,
der seine Geschichte erzählt.
Sei frei
und gib uns die Gnade der geöffneten Faust!

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Dieses Gedicht erschien zuerst im Rahmen von WEITER SCHREIBEN, einem Projekt von WIR MACHEN DAS, gefördert vom Deutschen Literaturfonds. Aus dem Arabischen von Osman Yousufi und Annika Reich.

Lina Atfah, *1989 in Salamiyyah/Syrien, hat in Damaskus Arabische Literatur studiert und für verschiedene Zeitungen und Kulturmagazine geschrieben. Seit 2014 lebt sie in Wanne-Eickel. 2019 wurde ihr erster Gedichtband auf Deutsch veröffentlicht, „Das Buch von der fehlenden Ankunft“.

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Die gedruckte Auflage des Interkulturellen Kalenders 2020 ist leider vergriffen. Eine digitale Version (pdf) zum Herunterladen gib es > hier.

Der Interkulturelle Kalender des Ruhrgebiets empfiehlt jeden Monat eine besondere Veranstaltung. Vom 28. September bis 4. Oktober findet die Interkulturelle Woche in ganz Deutschland statt. Auch im Ruhrgebiet beteiligen sich viele Städte mit einem abwechslungsreichen Angebot. Wir laden Sie ein, neue Ansichten Ihrer Stadt kennenzulernen! Weitere Informationen > hier.

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