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Förderfonds Interkultur Ruhr 2016 – Dokumentation, Analyse, Empfehlungen

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Förderfonds Interkultur Ruhr 2016 – Dokumentation, Analyse, Empfehlungen

von: 
Guido Meincke

Ein Jahr Förderfonds Interkultur Ruhr mit über 40 geförderten Projekten im Ruhrgebiet. Alexis Rodríguez, Anthropologe aus Cuernavaca (Mexiko), und Patrick Ritter, Kulturwissenschaftler aus Neu-Ulm, haben für den Regionalverband Ruhr eine umfangreiche Dokumentation erstellt und beleuchten darin die Potentiale partizipativer interkultureller Arbeit im Kunst- und Kulturbetrieb im Ruhrgebiet. Nun gibt es die Dokumentation zum Download. Die Autoren (dt./engl.) im Interview.

Ich halte die druckfrische, 150 Seiten umfassende Dokumentation zum Förderfonds Interkultur Ruhr 2016 in Händen. Was habt ihr da gemacht und was ist dabei herausgekommen?

PAR: Für das Team Interkultur Ruhr haben wir die Geschehnisse des letzten Jahres in Bezug auf den Förderfonds dokumentiert und reflektiert, was durch die Förderungen alles möglich wurde. Die Erfahrungen und Ergebnisse sollen in den nächsten Förderzyklus einfließen, der Mitte März 2017 beginnt.

Dabei sollte nicht nur stichprobenartig auf Veranstaltungen der über 40 geförderten Projekte eingegangen werden. Über die kurzen Selbstdarstellungen der Projekte im Projektkatalog (ab S. 67) hinaus wollten wir vor allem auch die sozialen Prozesse innerhalb dieser Projekte in ihrer Vielfalt genauer betrachten. Dafür haben wir eine Onlinebefragung durchgeführt, in der wir neben Rahmendaten über die teilnehmenden Personen auch Ziele, Strategien und Herausforderungen von den Projektleiter*innen abgefragt haben. In einem zweiten Durchgang haben wir 13 etwa einstündige Einzel- und Gruppeninterviews mit 18 Personen geführt. Das war für uns der spannendste Teil – mit verschiedenen, meist sehr engagierten Projektleiter*innen und Projektteilnehmer*innen zu sprechen.

Flucht, Migration, Integration und verwandte Themen beherrschen ja seit einiger Zeit sehr die öffentlichen Debatten. Sich jenseits politischer und medialer Pauschalisierungen gegenüber Flüchtlingen mit konstruktiven interkulturellen Projekten zu beschäftigen, war sehr interessant. Wir haben uns gefragt: Welche Akteur*innen reagieren mit ihren Unternehmungen auf diese Debatten und mit welchen Mitteln? Welche Partnerschaften gehen Akteur*innen aus dem Kunst- und Kulturbetrieb etwa mit Institutionen aus dem Sozialbereich ein? Welche Annahmen, Motivationen und Bedürfnisse verbergen sich hinter der Umsetzung und mit der Teilnahme an solchen Projekten? Wie ernst wird jeweils der Aspekt der Partizipation bzw. Teilhabe genommen? Wie verändern solche Situationen unsere Gesellschaft, vor Ort, in den Städten?

Patrick, was hat dich an dieser Arbeit persönlich interessiert, was war dir besonders wichtig?

PAR: Der direkte Zugang zu diesen vielen Projekten, über 40 im ganzen Ruhrgebiet verteilt, ist für mich eine große Bereicherung. Ich lebe selbst erst seit zwei Jahren in der Region. So hatte ich die Gelegenheit, noch mehr Akteur*innen kennenzulernen. Besonders beeindruckend war das große Engagement vieler Menschen, denen wir begegnet sind. Man sagt so einfach, das Ruhrgebiet hätte viel Erfahrung mit Migration. Gäbe es nicht unzählige Leute, die dieses Ideal hochhalten und konstruktiv an einer weltoffenen Ruhr-Region arbeiten, wäre die bloße Behauptung nicht viel wert. Die vorhandene Diversität muss immer wieder auch sichtbar gemacht werden. In der Hinsicht ist unsere Dokumentation eine empirische Bestandsaufnahme eines relativ großen Akteursbereichs. Und trotzdem ist das ja nur ein kleiner Teil dessen, was tatsächlich im interkulturellen Bereich in dieser Region geschieht.

Alexis, you joined the documentation project last summer. What is your perspective on this publication?

AR: I was very lucky to run into the Interkultur Ruhr Programme as I was doing my first steps as a new neighbour in Bochum. So when Patrick asked me if I would like to take part in doing the documentation I was totally positive and joined this boat delighted to be able taking part in such an interesting task.

My experiences in Ruhrgebiet interweave on the one hand with my life as a migrant, with the experience of living in several countries with very different socio-cultural and political settings. On the other hand with my approach to social reality as an anthropologist. I have been researching migration and youth for several years. In the last years, I have started to explore the possibilities of Participatory Action Research in order to involve other social actors in the research process, and finally my own political believes and desire to participate actively in building the society I want to live in, no matter where I am.

What is your general interest in research about migration?

AR: As an anthropologist I am very much interested in observing how social processes create the network of meanings that we call culture. Anthropology has a long tradition dealing with inquiring “otherness”, everything that is estrange to oneself. In this work, I had the chance to approach that phenomenon from a new side. The focus this time was not about the experiences of people with own migration projects, but instead we focused on how the art and cultural sectors engage themselves in the process of dealing with and creating “otherness”.

Understanding the logics that these projects followed helped us to understand the social place of migration. Where the “others” are placed tells more about oneself’s perspective. In regard to refugees, who are kept in a severely underpriviledged position for months and sometimes years by the administrative procedures of the hosting society, this becomes very visible. “Otherness” in this field is becoming almost as a synonym of inequality. The research gave us the chance to critically question how inequalities, distance and differences are produced and how they could possibly be overcome through the projects we analyzed. A critical research about migration should include a revision of how the term of migration or being a refugee is produced in order to expose the political dimension of it.

Would you say that projects like those you have analysed in this study rather reproduce current images of “otherness”, or did you also discover strategies and practices that are capable to change people’s minds?

PAR: Die behauptete Andersartigkeit der Flüchtlinge wird ja am vehementesten in der politischen und medialen Sphäre erzeugt und bestärkt. Dass die Menschen aus zahlreichen Ländern und mit ganz unterschiedlichen religiösen oder kulturellen Hintergründen kommen und ernstzunehmende Individuen sind, spielt in diesen Darstellungen meist gar keine Rolle. Viele Projektinitiator*innen greifen genau diese Zuschreibungen und Vorurteile zunächst wieder auf, um aus dieser "Masse" wieder mündige Einzelpersonen zu machen. Aus Innensicht einiger Projekte wurde oft gesagt, gemeinschaftlich die Projekte zu erarbeiten, ist ein hervorragender Erfahrungsraum, um die zahlreichen Fremdzuschreibungen aufzugreifen, umzuformen und eigene Standpunkte zu entwickeln. Für manche ist es nur ein Nebeneffekt der künstlerischen Arbeit, für andere ist es das Hauptziel der Projekte, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen und Austausch zwischen Alt- und Neubürger*innen zu ermöglichen.

AR: Yes, the starting point of our work were the experiences gathered within the projects, and from there we made a way to what we called intercultural practice. We intended to collect and discuss all those strategies and practices that were capable to change people’s minds, but also those that aim to change and question the role of social actors and institutions that produce cultural ways of living together. We had to look at the projects’ practices and conceptions and to question the role of the “others” within. Among the diversity of projects we found very interesting examples of strategies to overcome the question of “otherness”. Since this question is an intersectional one, we have found different kinds of approaches, some were aware of issues that others wouldn’t consider. Going back to your question, I would say that the experience of all projects, no matter in which level were aware of reproducing “otherness” or not, were very important to conceive a practice oriented concept of interculturality. 

What was your aim? Was erhofft Ihr Euch von dem Ergebnis der Dokumentation?

PAR: Erst einmal hoffen wir, dass sich viele Menschen für die Projekte interessieren. Hier sind Theaterstücke, Filme entstanden, sportliche Projekte, Bildungsprojekte und vieles mehr. Auch wenn die meisten Projekte aus dem ersten Förderzyklus schon abgeschlossen sind, bleiben doch wichtige Dinge zurück. Vor allem sind sich dadurch zahlreiche Menschen begegnet, die sich sonst nicht kennengelernt hätten. Freundschaften wurden geschlossen, soziale Netzwerke gestärkt und professionelle Partnerschaften wurden geknüpft. Ich hoffe, die Dokumentation ist für viele Akteur*innen ein Anreiz, neue progressive interkulturelle Projekte anzugehen oder ihre bisherige Arbeit weiterzuentwickeln.

Lässt sich ein Fazit ziehen? Welche Empfehlungen könnt ihr geben?

PAR: Im Rahmen der Arbeit konkretisierte sich bei uns beiden zunehmend die Überzeugung, dass Interkulturalität als solidarisches Prinzip innerhalb einer Gesellschaft zu begreifen ist, und dass die geförderten Projekte zu einer für viele Menschen gewinnbringenden Reflexion über ihre gesellschaftliche Umwelt geführt haben. Und es war uns wichtig zu zeigen, dass der Kunst- und Kulturbetrieb Interkulturalität nicht nur als symbolisches oder thematisches Unterfangen begreifen sollte, sondern dass sich dies perspektivisch stark auf einer organisatorischen und institutionellen Ebene niederschlagen kann. Mittel- und langfristig sollten also „Neuankömmlinge“, „Heimatsuchende“ oder auch „Durchreisende“ die Möglichkeit haben, eigene Projektideen zu verwirklichen.

In den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskussionen zwischen nationalen Abschottungstendenzen einerseits und kosmopolitischen Weltbildern andererseits ist die künstlerische Entwicklung gesellschaftlicher Utopien und die Herstellung ganz lebensnaher Begegnungsszenarien sehr wichtig für den sozialen Zusammenhalt und die kulturelle Weiterentwicklung. Gerade wenn parallel mehr und mehr Menschen abgeschoben werden und die EU-Außengrenzen zunehmend mit Zäunen versehen werden. Diese divergierenden Realitäten zu leugnen, wäre ein Fehler. Wir hoffen, dass sich viele mutige Initiativen zusammenschließen und dass sich Kunst- und Kulturprojekte für den Förderfonds Interkultur Ruhr 2017 bewerben, um für eine weltoffene Gesellschaft vor Ort im Ruhrgebiet zu werben und diese auch ein Stück weit vorleben.

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Patrick Ritter (M.A.), 1980 in Neu-Ulm geboren, studierte nach Abschluss einer handwerklichen Ausbildung an der Universität Tübingen Empirische Kulturwissenschaft, Soziologie und Neuere Englische Literatur. Seit 2015 lebt Patrick Ritter im Ruhrgebiet. Nach einem Volontariat im Projektmanagement bei Urbane Künste Ruhr ist er seit März 2016 als Kulturprojektmanager und Autor u.a. für das Projekt „Interkultur Ruhr“ tätig.

R. Alexis Rodríguez Suárez (PhD), 1977 in Cuernavaca (Mexiko) geboren, ist Sozial- und Kulturanthropologe mit postgradualem Studium im Fach „Youth Studies and Youth Policies” und PhD in Stadtanthropologie. Seit 2004 arbeitete er in Spanien und Polen in Forschungsprojekten über Migration und Jugendkulturen an verschiedenen Universitäten. Seit 2014 lebt er in Deutschland, wirkte als Gastforscher an der HafenCity Universität Hamburg in der Abteilung „Kultur der Metropole“ mit und ist als Mitarbeiter in soziokulturellen Projekten des „ABC Bildungs- und Tagungszentrums“ (in Drochtersen) tätig. Zudem wirkte an der MetroZones Schule für städtisches Handeln in Berlin und Hamburg mit.

 

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Dokumentation Förderfonds Interkultur Ruhr 2016
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