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Offenheit ist eine Aufgabe von Kino

Nina Selig im Interview

Offenheit ist eine Aufgabe von Kino

von: 
Sarah Heppekausen

Wenn Nina Selig Fragen zum endstation.club beantwortet, muss sie nicht lange nachdenken. Denn das hat sie längst getan. Sie tut es immer wieder, ständig, auch im Austausch mit Kolleg*innen und anderen Institutionen. Sie fragen sich, ob sie es richtig machen, was sie anders machen, wen sie noch einbinden können und in welche Richtung das Projekt gehen könnte. Der endstation.club ist ein experimentelles Format, ein ständiges Ausprobieren, ein permanenter Prozess. Seit anderthalb Jahren sind filmbegeisterte Menschen zwischen 16 und 26 Jahren mit und ohne Fluchterfahrung eingeladen ins endstation.kino, um gemeinsam Filme zu schauen, zu diskutieren und selbst zu produzieren. Die club-Mitglieder sind nicht nur ein Teil des Kinos geworden, sie gestalten es auch aktiv mit. Nina Selig leitet das endstation.kino, das in der Selbstbeschreibung ein Ort für und von vielen ist. Und eben diese Offenheit werde im endstation.club erprobt.

Wie ist der endstation.club entstanden?

Nina Selig: „Es gab zwei Vorläufer. Als 2015 eine Erstaufnahme für Geflüchtete bei uns gegenüber, auf der anderen Seite der Gleise, in einer Schule eingerichtet worden war, haben wir angefangen, Filme für Kinder zu zeigen, Kurzfilme ohne Dialog. Wir haben das Format dann zusammen mit dem Institut für Medienwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum ausgeweitet zum Projekt „von hier aus – über Film sprechen“, haben drei Semester lang einmal die Woche einen Film gezeigt, erst für Kinder, dann für Jugendliche und im dritten Semester für Jugendliche/Erwachsene. Es war nicht explizit gelabelt als Flüchtlingskino. Was wir gemacht haben, war mehrsprachige Werbung. Wir haben die Kinder und Jugendlichen auch aus einer städtischen Unterkunft für Geflüchtete hier in der Nähe abgeholt. In einem Moment der totalen Überwältigung haben wir dann ganz unkompliziert Förderung von Interkultur Ruhr bekommen und Honorare und Filmmieten bezahlen können. Neben diesem Uni-Projekt haben wir im Rahmen des Förderprogramms „Kino verbindet“ jungen erwachsenen Geflüchteten regelmäßig Filme gezeigt und gemeinsam diskutiert. Aus diesen zwei Projekten ist eins geworden. Wir haben das Programm in den Abendbereich verlegt. Unsere Zielgruppe ist von Anfang bis Ende 20, wir sind aber offen.“

Einmal im Monat zeigt ihr einen Film. Meistens kommen auch Gäste zur anschließenden Diskussion – wie jetzt Regisseur Gustav Deutsch zur Vorführung seines Found-Footage-Films „so leben wir – Botschaften an die Familie“, die eine Art Gastspiel von Interkultur Ruhr ist. Manchmal wird mit einem Gast auch via Skype diskutiert.

„Die Publikumsgespräche sind genauso wichtig wie der Film selbst. Wir übersetzen nach Bedarf ins Arabische, Iranische, Französische oder Englische. Manchmal ist das ein wilder Sprachenmix.“

Die Übersetzer*innen sind meist selbst Club-Mitglieder.

„Ja, wir versuchen soweit wie möglich, die Menschen, die wir über den club kennenlernen, weiter hier zu beschäftigen und zu fördern. Auch weil wir merken, dass es gut ist, wenn sie Bestätigung oder auch einfach etwas Geld bekommen. Viele, die von Anfang an dabei waren, arbeiten hier inzwischen als Honorarkräfte, moderieren, übersetzen für uns oder machen mit bei Workshops. Wir haben durch das Projekt viele gute Honorarkräfte gefunden, die uns auch treu sind, darüber sind wir sehr glücklich.“

Wer kommt denn zum club?

Regelmäßig kommt eine Gruppe aus Syrien. Wenn wir Filme mit iranischem Bezug zeigen, kommen viele Iraner*innen. Dann gibt es eine Gruppe geflüchteter Studierender der Evangelischen Fachhochschule und wir haben Kontakte über das International Office der RUB. Ganz oft sind es aber einfach Freunde von Mitgliedern.

Der endstation.club – gefördert vom Land, von der LAG Soziokultur und Interkultur Ruhr – zeigt nicht nur einmal pro Monat einen Film und diskutiert darüber. Die Mitglieder drehen auch eigene Kurzfilme, sie fahren gemeinsam zur Duisburger Filmwoche und geben einmal im Jahr eine Publikation heraus, das endstation.magazin. Darin schreiben sie über die gesehenen Filme, über die Diskussionen und Workshops. „Als ich die Kamera gehalten habe, hat das etwas in meinem Herzen berührt. Ich wollte unbedingt die Kamera umarmen, weil ich seit meiner Zeit im Libanon keine Kamera mehr in der Hand gehalten hatte“, schreibt im aktuellen magazin zum Beispiel Anas Obaid, der aus Syrien in den Libanon floh und dort seinen ersten Film drehte. Seit drei Jahren lebt er in Deutschland, beim endstation.club ist er seit Beginn dabei. In den Heften zu lesen sind persönliche Beschreibungen und Kritiken, es sind Dokumentationen davon, was Kino sein kann: nämlich „ein Anlass, um über mehr zu sprechen als nur über den Film“, wie Nina Selig es formuliert.
 
„Da machen sich immer auch andere Themen auf. Wir haben hier schon fast philosophische Gespräche gehabt, auch lustige, bei denen es zum Beispiel um Familienkonzepte ging. Da bekommt man mit, was die Leute bewegt. Und man bekommt gespiegelt, wie manche Sachen hier in Deutschland eigentlich so sind.“

Die Kino-Leiterin nennt sich selbst die „Strippenzieherin im Hintergrund“ für den club. Sie kümmert sich um die Finanzierung, die Verwaltung, Abrechnungen, Konzepte, die Öffentlichkeitsarbeit und entwickelt zusammen mit der club-Projektleiterin Anna Sowo Koenning das Programm. Eigentlich möchten sie gar kein spezielles Programm für die club-Mitglieder machen, eigentlich sollen die sich mehr und mehr im regulären Programm zuhause fühlen. Aber das sei ein längerfristiger Prozess und sehr kompliziert, gesteht Selig. Trotzdem, am Konzept wird festgehalten. Und nicht nur das. Das Team des endstation.kinos versuche immer weiter, sich zu öffnen. Und das bedeute auch, Inhalte abzugeben.

Wie genau sieht das denn aus im Kino-Alltag, was verändert sich innerhalb der Strukturen?

„Wir merken, wie schwierig das eigentlich ist. Dann muss dringend das neue Programm raus und dann macht man es eben schnell selbst. Aber wir wollen jetzt das Tempo rausnehmen. Wir haben zum Beispiel gerade über ein neues Format gesprochen, das im Dezember starten soll, zusätzlich zum Abendprogramm: der endstation.frühstücksclub. Da bleibt mehr Zeit, um Themen zu vertiefen, weiter zu diskutieren, zu gestalten. Vor allem aber ist es mein Wunsch, dass aus der Gruppe heraus auch Impulse kommen für unser reguläres Programm. Wir planen zum Beispiel mehr arabische Filme ins Programm zu nehmen. Parallel dazu haben wir unser Personal internationalisiert. Die Mitarbeiter*innen am Tresen sprechen Russisch, Arabisch, Spanisch, Französisch und sowieso alle Englisch. Uns ist wichtig, wie die Menschen hier empfangen werden.“

Ihr seid ein kommerzielles Kino, habt nur begrenzte Geldmittel und Ressourcen, arbeitet mit einem unglaublich kleinen Team. Warum stemmt ihr solch ein Format?

„Wir machen das, weil wir es wichtig finden. Offenheit ist in unseren Augen auch eine Aufgabe von Kino. Menschen einen Raum zu geben, nicht nur, um Filme zu gucken, sondern auch, um sich zu treffen, zu diskutieren, ein Zuhause zu finden, Perspektiven entwickeln zu können und sich noch weiter zu professionalisieren. Das Projekt richtet sich bewusst nicht nur an Geflüchtete, um eine weitere Ghettoisierung zu vermeiden.“

Und wie geht es weiter? Was erhofft ihr euch?

„Wir wollen das Projekt in 2019 intensivieren, mehr mit Kooperationspartnern machen, wenn wir die Förderung bekommen und mehr in die Medienproduktion einsteigen. Persönlich hoffe ich, dass wir es als Kino schaffen, zu überleben. Denn das ist die Voraussetzung für alles andere, was hier stattfindet. Und ich hoffe, dass unsere interkulturelle Ausrichtung keine Nische ist, sondern eine sinnvolle Ergänzung zu all den anderen Kinos, die es hier gibt. Momentan fühlt es sich noch wie eine Nische an, dabei könnte man doch meinen, dass so etwas längst selbstverständlich sei. Migration gibt es ja nicht erst seit gestern im Ruhrgebiet. Dass es Menschen gibt, die hierherkommen und einen Anspruch haben, sich in der Kultur wiederzufinden – und das nicht erst seit gestern – das spiegelt sich auch im Kino zu wenig.“

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Veranstaltungs-Hinweis:
Gustav Deutsch: so leben wir
Di. 23.10.2018, 20:00 Uhr

Interkultur Ruhr und endstation.club präsentieren und diskutieren den Film gemeinsam im endstation.kino in Bochum-Langendreer. Im Vorprogramm wird eine kleine Auswahl von Familienfilmen aus dem Projekt “Schmelztiegel Ruhrgebiet – Alltag schreibt Geschichte” gezeigt.

https://www.facebook.com/events/240766233456086

 

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