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Agentur Ausländerrauş : Akkordarbeit im halb verbrannten Wald ... im HomeOffice

Eröffnungsrede Anatolpolitan

Agentur Ausländerrauş : Akkordarbeit im halb verbrannten Wald ... im HomeOffice

von: 
Nesrin Tanç

Diese Notiz ist eine Çare-Version im HomeOffice der Akkordarbeit.

Care-Arbeit, davon ist zurzeit viel zu lesen und zu hören. Ich muss dabei auch an Çare denken, mit dem türkischen Ç (tsch (tschüss)): heißt Heilmittel, aber eben auch Lösung und Ausweg. Ne çare?: was lässt sich schon dagegen machen? / wohl oder übel...

Aufgrund des Wissens, dass Kultur hierarchisch aufgebaut ist, so dass alles in ihr einen Wert hat, der durch die Stellung in der kulturellen Werthierarchie bestimmt wird, ist das Projekt Akkordarbeit im halb verbrannten Wald entstanden. In der Kultur unserer Zeit stehen öffentliche Institutionen, Bibliotheken, Museen und andere Archive in der Pflicht, die verwahrten Kulturgüter und Archivalien zu verwalten und partiell der Öffentlichkeit Zugang zu diesen Gütern und Wissensspeichern zu gewähren. Dabei werden – je nach politischer und finanzieller Ausrichtung – neue, relevante Kulturmuster ausgewählt, aber auch Kulturmuster entfernt, die als veraltet, weniger relevant oder demokratiefeindlich gelten. Literatur spielt in der Ordnung dieser Kulturinstitutionen eine enorm wichtige Rolle bei den Aspekten der Repräsentation von Bevölkerungsgruppen und in der Vermittlung von historischen Ereignissen.

Archiven haftet außerdem außerhalb der wissenschaftlichen Ordnung ein Image des Alten an. Doch wessen Alte sind das? Wer bezieht sich auf dieses dort öffentlich verwaltete Alte? Sind Archive doch Orte der Wissensbestände einer Gesellschaft, und die Antwort auf die Frage, welche Archive über Materialien von Autor*innen aus der Türkei verfügen, macht den defizitären Ist-Zustand bundesdeutscher Archive deutlich.

Die Herausforderung dieses Projektes liegt in der Auseinandersetzung mit den neuen Bezugnahmen – auf eine referentiell nicht vorhandene Vergangenheit. Denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann nicht gesagt werden, dass Geschichtswerdung und Geschichtsschreibung dafür stehen, dass Geschichte auch aus der Vergangenheit der Immigrant*innen und ihren mehrsprachigen Narrativen zu lesen, zu rekonstruieren versucht wird. Die Verwahrung und Archivierung des kulturellen Erbes der Immigrant*innen aus der Türkei ist ein zentrales Thema der Projekte Anatolpolitan und Agentur Ausländerrauş : Akkordarbeit im halb verbrannten Wald. Denn wir müssen beginnen zu archivieren, hinzuzufügen und strukturell gegen eine homogene und für eine Kulturgeschichtsschreibung einer pluralistischen Gesellschaft zu arbeiten. Das bedeutet, dass Narrative gestärkt werden müssen, Archive und Diskussionsräume eröffnet und Teilhabe ermöglicht werden muss.

Diese Prozesse können nicht gänzlich adhoc in einen experimentellen virtuellen Modus verlagert werden. Es zählen die Begegnungen und die Aktionsräume, die dafür ausgewählt werden. Denn die Auswahl der Aktionsräume ist ebenso ein existentieller Teil der Projektes, bzw. des Problemfeldes. Das Projekt sollte am 4. April 2020 in Kulturräumen in Duisburg stattfinden, die es bisher nicht gibt. Die inhaltliche Arbeit des Projektes diente dabei auf mehreren Instanzen als Argumentationsgrundlage und als Einblick in die Komplexität und Intersektionalität der Thematik, bzw. der Schieflage im kulturellen Leben in Duisburg. Denn wie auch Jörg Thomsa zuletzt in seiner Dissertation festellte, fanden generalstabsmäßige Förderungen von Literaturprojekten in Duisburg statt, verließen aber nie den Status und die Form des "permanenten Provisoriums". So wie es auch das Archiv für Literatur und Kultur in Duisburg nicht gibt, welches diese Materialien verwahrt oder zumindest einen Ort der Erinnerung an diese Kultur(geschichte) der ersten Generation der Migration nach dem Zweiten Weltkrieg systematisch aufbaut. Es ist noch stets das Haus, das es nicht gibt, wenn es um die gemeinsame Kulturgeschichte geht.

Sowohl dieses Projekt, als auch das Projekt Anatolpolitan sind in diesem Arbeitsbereich zu verorten. Denn in diesen Projekten werden Biografien dargestellt, und Biografien eröffnen Einblicke in private und politische Welten. Mit jeder erzählten und erinnerten Geschichte wird ein weiteres Mosaikteil in die Gesamtgeschichte, die erzählt wird, hinzugefügt. Die künstlerischen, wissenschaftlichen und damit auch politischen Biografien eröffnen einen differenzierten Blick auf die Berührungspunkte deutscher und türkischer Geschichte – auch vor der Zeit der Gastarbeit – und weltpolitischer Zusammenhänge. Ausgehend von einer Suche nach der „eigenen Konstruktionsgeschichte“ wird die komplexe Geschichte von Verflechtungen und den Spuren, die sie hinterlassen, mit den Mitteln des Schreibens und des Hörens/Sprechens nacherzählt.     

Mit dem Projekt Anatolpolitan habe ich ein lang ersehntes Literaturprojekt umgesetzt: die Verortung der Literatur von Fakir Baykurts Erzählungen über das Ruhrgebiet. Die Literaturkarte hängt zurzeit im Internationalen Zentrum am Flachsmarkt am Innenhafen in Duisburg. 2 Meter x 2 Meter groß. Die Eröffnung der Karte war hochemotional, Tränen der Freude und der Nostalgie und Sehnsucht sind geflossen. Dieses Projekt hat generationsübergreifend seine Wirkung entfaltet: Die Besucher*innen standen zahlreich vor der Karte und studierten sie, redeten über ihre eigenen Erinnerungen aus der Zeit der Erzählungen, die sogenannte erste Generation der Immigrant*innen aus der Türkei war sichtlich emotional berührt. Wir haben gesungen, geweint und gelacht. Das Engagement dieser Generation im Bereich der Literatur und Kultur findet wenig Beachtung und das schmerzt die Menschen. Bei den jungen Besucher*innen habe ich Freude, Neugier und einen großen Tatendrang beobachtet, eine Wucht an Interesse und einen starken Wunsch nach Mitgestaltung, Erinnerung und Vermittlung. Mit diesem Projekt wollte ich einen Anstoß für die Rekonstruktion der Literaturgeschichte der Region Ruhrgebiet geben, eine Art Lösungsvorschlag für den Zustand in dem wir uns befinden.

Im Rahmen des Projektes Agentur Ausländerrauş : Akkordarbeit im halb verbrannten Wald wurde ein „Bestand“ an vergessenem Archivgut aus dem Bereich Literatur und Kunst mit vielen einzelnen mehrsprachigen Dokumenten erarbeitet. Dazu gehört die Duisburger Literatur- und Kulturzeitschrift dergi/Die Zeitschrift. In dem 1992 erschienen Essayband „Atlas des tropischen Deutschland“ macht Zafer Şenocak als erste Rezeptionsquelle auf die Literatur- und Kulturzeitschrift dergi/Die Zeitschrift aufmerksam. In seinem Essay „Wann ist der Fremde zu Hause?“ schildert er unter dem Titel seine Betrachtungen zur Kunst und Kultur von Minderheiten in Deutschland. So erwähnt Şenocak die Literaturzeitschrift dergi/Die Zeitschrift aus Duisburg und Yazın/Literatur aus Frankfurt als zwei Medien, die dem Bestreben nachkommen konnten, „eigene, von der Türkei unabhängige Zeitungen und Zeitschriften“ zu etablieren.

dergi/Die Zeitschrift erschien ab März 1986 als Zweimonatszeitschrift, umfasste 19 Seiten im Format DIN A4 und kostete 3 Deutsche Mark. Auf Seite 5 der ersten Ausgabe ist eine halbseitige Rezension zu der Offenbacher Autorin Saliha Scheinhardt und ihrer Lesung in der Essener Karl-Liebknecht-Buchhandlung zu finden. Unter diesem Artikel ist unter der Überschrift „Işçi Göcü – Gençlik ve Edebiyat/Arbeitsmigration – Jugend und Literatur“ ein Artikel zu einem Arbeitstreffen vom 21.12.1985 platziert. Diskutanten sind der Autor und Mitarbeiter im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ Harry Böseke und der Autor Eberhardt Kirchoff aus Dortmund. Harry Böseke schrieb 1984 gemeinsam mit Martin Burkert das Stück „Ab in den Orient-Express“. Die Lieder dieses Stückes sind auf dem legendären Deutschland-Album „Die Kanaken" des Sängers Cem Karaca zu finden. Es finden sich zahlreiche Besonderheiten in den einzelnen Ausgaben. So auch Hinweise auf Bekanntschaften und Kooperationen zwischen dem „Arbeitskreis von Schriftsteller*innen aus der Türkei in NRW/Kuzey Ren Vestfalya Türkiyeli Yazarlar Çalışma Grubu“ und der deutschsprachigen Ruhrgebietsliteratur und den Vertreter*innen des „Werkkreises Literatur der Arbeitswelt“, wie beispielsweise das Interview mit Max von der Grün (geb. 1926). Bereits in der ersten Ausgabe führt der Hertener Kinder- und Jugendbuchautor Yücel Feyzioğlu ein Interview mit von der Grün, aus dem hervorgeht, dass sich von der Grün und Feyzioğlu regelmäßig bei den monatlichen Treffen des Verbandes Deutscher Schriftsteller NRW (NRW Yazarlar Sendikası) begegneten.

Dieses äußerst interessante Material ist ebenfalls Teil des Projektes. Der Versuch, im Rahmen einer Lecture Performance die eigene Arbeit als Teil dieser Geschichte und als Zusammenkunft zu inszenieren wird aus Gründen vertagt, aber die Arbeit an der Sammlung dieser Geschichte wird in Akkordarbeit und Çare und Office fortgesetzt. Gerade weil wir nicht wissen, wann wir wieder Präsenz zeigen können und ob und wer, wie überlebt. ...

Inwieweit und in welchem Kontext bereits von einer gemeinsamen Kulturgeschichte gesprochen wurde und welcher Zusammenhang dabei zu den Immigrant*innen aus der Türkei, die nach dem Anwerbeabkommen 1961 in die Bundesrepublik kamen, zugesprochen wurde, ist keine unbeantwortete Frage; jedoch fehlen die strukturierten Formen der kulturellen Teilnahme und Repräsentation, die diese Prägung in die Gesellschaft hinein artikulieren und pflegen, sodass dieses Wissen für Wissenschaftler*innen und alle Bürger*innen (unter normalen Umständen in Archiven, Rezeptionen etc.) zugänglich ist. Diese Pflege und Rezeption kulturellen Erbes bedeutet, dass die Minderheiten – hier im Speziellen die Immigrant*innen aus der Türkei – als Teil der regionalen und städtischen Literatur und Kultur und schlussendlich der Kulturgeschichte der Bundesrepublik repräsentiert und anerkannt werden.

Die normativen Wertehierarchien ändern sich nicht automatisch durch den Wandel in der Zeit, „sondern beim Umgang mit den Werten wird das Zeitgeschehen positiv oder negativ verwendet, in der überzeitlichen Perspektive der kulturellen Archive und des Vergleichs, den diese ermöglichen“, schreibt Prof. Boris Groys in seinem Buch „Über das Neue“ (Frankf.a.M., 1999, S. 28). Kulturelle Wertgrenzen und gesellschaftliche Ungleichheit müssen daher auch unter dem Aspekt des „Neuen“ als etwas „Vergessenes“, die Erweiterung des Bestehenden als etwas „Wachsendes“ reflektiert werden; oder, um mit einer bestimmten Form des Feststellens und Verortens, die mich im Bezug zu Sammlungen kulturellen, gesellschaftlichen Wissens beschäftigt: dem Archivieren, der Ordnung der Kultur, einer Generalüberprüfung unterzogen werden.

Durch die Kooperation mit der Akademie der Künste der Welt Köln (Madhusree Dutta und Eva Busch), eine Ausstellung zu den Ergebnissen meiner Studie zu gestalten, bot sich die Gelegenheit, mit dem Projekt Agentur Ausländerrauş : Akkordarbeit im halb verbrannten Wald eine künstlerische Form zu finden, um auf eine weitere Ebene aufmerksam zu machen. Auch wenn bisher von transnationalen Zusammenhängen in der Literatur und der Aufnahme von einzelnen Vor- und Nachlässen in die Archive gesprochen werden kann, kann noch nicht von einem archivierten Wissen und Kulturbestand in den Institutionen gesprochen werden. Wo soll dieses Wissen um mehrsprachige Literatur andocken, wo und mit welchen Mitteln können diese Projekte verortet werden? Und wer soll sich in den Archiven um die mehrsprachigen Nachlässe und Materialien kümmern? Es wäre zu provokant zu behaupten, dass die relevanten Institutionen ihre Mitarbeiter*innen nicht gezielt auf die ihre türkisch-, kurdisch-, griechisch-, russische oder polnische Sprachkompetenz hin auswählen. Was deutlich erkennbar ist, ist die fehlende Ausrichtung auf mehrsprachige und transareale Bestände.

Die Qualität der tatsächlichen Verwahrung von kulturellen Erinnerungsträger*innen, die Form und viele andere Aspekte kultureller Erinnerungsräume sind schlussendlich von politischen und sozialen, nationalstaatlichen sowie globalen Interessen – und vom Engagement einzelner Aktivist*innen und Expert*innen – abhängig. Daher setzten wir unsere Akkordarbeit im halb verbrannten Wald fort und sammeln, reden, suchen, schreiben und zeichnen weiter an einer Kultur, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet.

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"Agentur Ausländerrauş: Akkordarbeit im halb verbrannten Wald" entsteht in Kooperation mit der Akademie der Künste der Welt und Interkultur Ruhr.

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www.urbanekuensteruhr.de/de/detail/kammerspiel/nesrin-tanc

https://nesrintanc.academia.edu/research#papers

Türschelle
Akkordarbeit im halb verbrannten Wald
Kooperation Soziokulturelles Zentrum
Ausstellungskatalog Dialog_Schacht
Ausstellungskatalog Dialog_Schacht
Anatolpolitan Karte
Eröffnung Anatolpolitan
dergi/Die Zeitschrift
dergi/Die Zeitschrift
Lecture Performance
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